Oscars: “Naatu Naatu” ist schon jetzt ein Gewinner

Zwei indische Männer in westlicher Kleidung stehen vor einem prächtigen Palast, umgeben von englischen Ladies in kostbaren Kleidern und nicht minder edel gekleideten Gentlemen. Die Szene stellt eine Konfrontation zwischen englischen Kolonialherren und ihren indischen Untertanen im Indien des frühen 20. Jahrhunderts dar.

“Kein Salsa, kein Flamenco. Kennt ihr Naatu?”, fragen die Inder, während sie zu tanzen beginnen, dabei jede Menge Staub aufwirbeln und alle Konventionen brechen. Das Ganze mündet schließlich in einem regelrechten Tanzduell zwischen Indern und Engländern. Die englischen Damen unterstützen dabei die beiden Rebellen – zum Schrecken ihrer männlichen Landsleute. 

Gigantischer Welterfolg – auch dank TikTok

“Naatu Naatu” bedeutet “Tanz, tanz” in Telugu, einer Sprache, die von mehr als 80 Millionen Menschen in Südindien gesprochen wird. Der gleichnamige Song stammt aus dem Film “RRR”, dessen Titel für “Rise, Roar, Revolt” steht (dt. “Steh auf, brülle, rebelliere”). Er ist ein Mix aus Actionfilm und Musical und erzählt die stark fiktionalisierte Geschichte von Alluri Sitarama Raju und Komaram Bheem, die sich in den 1920er Jahren gegen die britischen Kolonialherren auflehnten.

Das von M.M. Keeravani komponierte Stück gewann kürzlich einen Golden Globe für den besten Filmsong und gewann in der gleichen Kategorie bei den US-kanadischen Critics’ Choice Awards in Los Angeles. Mittlerweile ist er auch Teil der Shortlist der diesjährigen Oscars, und in Indien hofft man, am 24. Februar 2023 auch unter die letzten Nominierten zu kommen. Die jüngsten Auszeichnungen und die internationale Anerkennung haben den ohnehin gigantischen Erfolg des Songs noch einmal vergrößert. TikTok-User aus aller Welt tanzen die Moves aus “Naatu Naatu” nach.

Was ist das Besondere an “Naatu Naatu”?

Der Song hat eine mitreißende Energie. Parvathaneni Rambabu, Gründer der indischen PR-Firma Cinejosh, schreibt auf seiner Website, dass die starken Kicks und das Staubaufwirbeln den Tanz so attraktiv machten, ebenso wie die Tatsache, dass er eine Metapher für den Sieg über die Kolonialmacht England darstelle. Chris Willman beschreibt “Naatu Naatu” im Filmmagazin “Variety” als “Tanzsequenz, die weltweit als eine der aufregendsten Filmszenen im Jahr 2022 wahrgenommen wird”. Das Lied sei ein “Fimmusik-Adrenalinkick”. Seine Energie könnte ihn womöglich der Konkurrenz bei den Oscars davontragen.

Ein Aspekt, der “Naatu Naatu” und seinen weltweiten Erfolg so besonders für Inderinnen und Inder macht, ist dass es sich bei “RRR” nicht um eine Bollywood-Produktion aus Mumbai handelt, also einen Film auf Hindi, sondern einen in Südindien produzierten, sogenannten “Tollywood”-Film auf Telugu.

Teuerste indische Filmproduktion

Indian film “RRR” gains worldwide success for song “Naatu Naatu”

Dazu kommt, dass “RRR” mit einem Budget von umgerechnet 62 Millionen Euro der bislang teuerste indische Film ist. Allein die Tanzszene zu “Naatu Naatu” hat 1,7 Millionen Euro verschlungen. Gedreht wurde sie vor dem barocken Marienpalast in Kiew, der zeremoniellen Residenz des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, etwa sechs Monate vor Beginn des russischen Angriffskriegs.

T.M. Natarajan, der für die Auswahl der Drehorte des Films “RRR” verantwortlich war, sagte gegenüber der indischen Nachrichten-Website “The News Minute”, dass sie mit Vertretern der Stadt Kiew, darunter Bürgermeister Vitali Klitschko, verhandeln mussten, um die Drehgenehmigung zu erhalten. Die Stadt Kiew stimmte zu, nachdem man vom exzellenten Ruf von Regisseur S.S. Rajamouli erfahren hatte und klar wurde, dass der Film sehr erfolgreich werden könnte. 

Wie hoch stehen die Chancen bei den Oscars?

Wäre Popularität das Hauptkriterium, dann würde “Naatu Naatu” definitiv einen Oscar gewinnen. Bei den Golden Globes stach der Song Werke von etablierten Superstars wie Rihanna, Lady Gaga und Taylor Swift aus. Die Hoffnungen auf eine Nominierung für die Oscar-Endrunde sind also sehr hoch. Regisseur S.S. Rajamouli ist schon jetzt hochzufrieden mit seinem großen Erfolg. Er habe seinen Film für die Zuschauer und nicht für die Kritiker gemacht. Bis zum 15. Januar war “RRR” 16 Wochen unter den Top Ten nicht-englischsprachiger Filme von Netflix – länger als jeder andere Film. Seit seinem Start im März 2022 hat der Film über 100 Millionen US-Dollar eingespielt. 

Ein Junge mit halblangen Haaren steht lächelnd neben einem Filmprojektor

Szene aus “Das Licht, aus dem die Träume sind” von Pan Nalin

Weitere indische Produktionen auf der Oscar-Shortlist

Auch wenn “Naatu Naatu” keinen Oscar als bester Filmsong gewinnen sollte, können indische Kinofans auf die anderen Filme der Shortlist hoffen: Indiens offizieller Beitrag in der Kategorie “Internationaler Film”, Nan Palins Coming-of-age-Story “Das Licht, aus dem die Träume sind”, der die Liebesgeschichte eines Jungen mit dem Kino erzählt. Oder Kartiki Gonsalves’ “Die Elefantenflüsterer” aus der Kurz-Dokumentarfilm-Shortlist, in dem es um ein älteres Paar geht, das sich um verlassene Elefantenkälber kümmert. Und schließlich wäre da noch “All That Breathes” von Shaunak Sen geshortlistet für den besten Dokumentarfilm. Er handelt von der Arbeit zweier Brüder in Neu-Delhi, die Schwarzmilane retten, eine Greifvogelart. Der Film gewann beim Sundance Film Festival den Preis der Jury für den besten internationalen Dokumentarfilm. 

Die Oscar-Nominierungen werden am 24. Januar bekanntgegeben, die Preisverleihung findet am 12. März im Dolby-Theater in Los Angeles statt. 

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert von Philipp Jedicke.