Zwei indische Männer in westlicher Kleidung stehen vor einem prächtigen Palast, umgeben von englischen Ladies in kostbaren Kleidern und nicht minder edel gekleideten Gentlemen. Die Szene stellt eine Konfrontation zwischen englischen Kolonialherren und ihren indischen Untertanen im Indien des frühen 20. Jahrhunderts dar.
“Kein Salsa, kein Flamenco. Kennt ihr Naatu?”, fragen die Inder, während sie zu tanzen beginnen, dabei jede Menge Staub aufwirbeln und alle Konventionen brechen. Das Ganze mündet schließlich in einem regelrechten Tanzduell zwischen Indern und Engländern. Die englischen Damen unterstützen dabei die beiden Rebellen – zum Schrecken ihrer männlichen Landsleute.
Gigantischer Welterfolg – auch dank TikTok
“Naatu Naatu” bedeutet “Tanz, tanz” in Telugu, einer Sprache, die von mehr als 80 Millionen Menschen in Südindien gesprochen wird. Der gleichnamige Song stammt aus dem Film “RRR”, dessen Titel für “Rise, Roar, Revolt” steht (dt. “Steh auf, brülle, rebelliere”). Er ist ein Mix aus Actionfilm und Musical und erzählt die stark fiktionalisierte Geschichte von Alluri Sitarama Raju und Komaram Bheem, die sich in den 1920er-Jahren gegen die britischen Kolonialherren auflehnten.
Das von M.M. Keeravani komponierte Stück gewann im Januar 2023 den Golden Globe für den besten Filmsong und wenige Tage später den Critics’ Choice Awards. Dann schaffte er es auf die Shortlist der diesjährigen Oscars – und am 12. März konnte M.M. Keeravani die begehrte Trophäe tatsächlich in Empfang nehmen: “Naatu Naatu” erhielt den Oscar als bester Filmsong.
Was ist das Besondere an “Naatu Naatu”?
Der Song hat eine mitreißende Energie. Parvathaneni Rambabu, Gründer der indischen PR-Firma Cinejosh, schreibt auf seiner Website, dass die starken Kicks und das Staubaufwirbeln den Tanz so attraktiv machten, ebenso wie die Tatsache, dass er eine Metapher für den Sieg über die Kolonialmacht England darstelle.
Chris Willman beschreibt “Naatu Naatu” im Filmmagazin “Variety” als “Tanzsequenz, die weltweit als eine der aufregendsten Filmszenen im Jahr 2022 wahrgenommen wird”. Das Lied sei ein “Filmmusik-Adrenalinkick”. Seine Energie trug ihn womöglich der Konkurrenz bei den Oscars davon, wo “Naatu Naatu” immerhin gegen Beiträge von Lady Gaga und Rihanna ins Rennen ging.
Ein Aspekt, der “Naatu Naatu” und seinen weltweiten Erfolg so besonders für Inderinnen und Inder macht, ist, dass es sich bei “RRR” nicht um eine Bollywood-Produktion aus Mumbai handelt, also einen Film auf Hindi, sondern einen in Südindien produzierten, sogenannten Tollywood-Film auf Telugu.
Teuerste indische Filmproduktion
Dazu kommt, dass “RRR” mit einem Budget von umgerechnet 62 Millionen Euro der bislang teuerste indische Film ist. Allein die Tanzszene zu “Naatu Naatu” hat 1,7 Millionen Euro verschlungen. Gedreht wurde sie vor dem barocken Marienpalast in Kiew, der zeremoniellen Residenz des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, etwa sechs Monate vor Beginn des russischen Angriffskriegs.
T.M. Natarajan, der für die Auswahl der Drehorte des Films “RRR” verantwortlich war, sagte der indischen Nachrichten-Website “The News Minute”, dass sie mit Vertretern der Stadt Kiew, darunter Bürgermeister Vitali Klitschko, verhandeln mussten, um die Drehgenehmigung zu erhalten. Die Stadt Kiew stimmte zu, nachdem man vom exzellenten Ruf von Regisseur S.S. Rajamouli erfahren hatte und klar wurde, dass der Film sehr erfolgreich werden könnte.
Bis zum 15. Januar war “RRR” 16 Wochen unter den Top Ten nicht-englischsprachiger Filme bei Netflix – länger als jeder andere Film. Seit seinem Start im März 2022 hat der Film über 100 Millionen US-Dollar eingespielt.
Adaption Aus dem Englischen: Philipp Jedicke. Der Text wurde am 13.03.2023 aktualisiert.