Ein kürzlich gedruckter Comicstrip in der britischen Zeitung The Guardian beschäftigt sich mit der Übernahmeschlacht rund um den Premier-League-Verein Manchester United. Zum Konkurrenzkampf verschiedener Bieter meint Zeichner David Squires: “Zum Glück für United gibt es ja noch den guten alten Jim Ratcliffe!”
Da erscheint, wie vom Himmel gesandt, Jim Ratcliffe, “euer guter alter Kumpel” , weil ja auch er den “Brexit liebt”. Deswegen lebe der gute Jim auch in Monaco, “wegen seiner Yacht und der Steuern”. Und überhaupt: “Wir stehen zusammen auf dem Weg zur süßen endgültigen Erlösung, mit Jims aggressivem Lobbying gegen Umweltschutzmaßnahmen. Danke, Jim!”
Künstlerische Freiheiten, klar. Aber es zeigt doch deutlich, wie komplex Ratcliffes Geschichte ist. Ein charismatischer Mann, viel bewundert für sein bemerkenswertes geschäftliches Geschick – aber doch viel umstrittener, als es auf den ersten Blick erscheint.
Das Objekt der Begierde: Der Fußbalklub Manchester United – noch im Besitz der Glazer-Familie aus den USA
Ein Vermögen mit Chemie
Zweifellos ist er die populäre Alternative für die Fans des traditionsreichen Premier League-Klubs Manchester United, wenn es um einen neuen Besitzer geht. Die gegenwärtigen United-Eigner, die Glazer-Familie aus den USA, sind extrem unbeliebt und Umfragen zeigen, dass sich viel mehr Fans ein Einsteigen von Ratcliffe wünschen als etwa eine Übernahme durch das katarische Herrscherhaus.
Aber: Wer ist dieser Jim Ratcliffe? Der 70-jährige Engländer ist der Gründer, Mehrheitsaktionär und Vorstandvorsitzende von Ineos, dem laut US-amerikanischen Handelsmagazin Chemical & Engineering News 2022 der sechstgrößten Chemiekonzern der Welt
Sein Unternehmen Ineos besteht aus Dutzenden selbständiger Firmen in der Chemiebranche, sie produzieren Ausgangsstoffe für eine große Zahl chemischer Produkte, von Plastik über Pharmaartikel bis zu Farben und Erdölprodukten.
Ratcliffs Privatvermögen wurde 2018 auf 24 Milliarden Euro geschätzt. Das ist in den letzten Jahres zwar geschrumpft, wird aber immer noch bei rund 15 Milliarden Euro vermutet.
Das Logo des Firmenkonglomerates Ineos gehört einem der reichsten Briten – Jim Ratcliffe aus Manchester
Alles auf eine Karte
Unternehmer wurde er erst im Alter von 40 Jahren, als er in einer gewaltigen Wette alles was hatte, auf eine Karte setzte. Nachdem er Chemie-Ingenieurs-Wissenschaften studiert hatte, arbeitete er einige Jahre für den Mineralölkonzern Esso, bevor einen Master in Betriebswirtschaft erwarb und ins Anlagegeschäft einstieg. Er arbeitete für die Firma Advent, bis er 1992 entschied, lieber “etwas für sich selbst” tun zu wollen.
Gemeinsam mit einem Kollegen überzeugte er Banken, ihm 40 Millionen Pfund (etwa 45 Millionen Euro) zu leihen, um eine Chemiefirma von British Petroleum zu erwerben. Er nahm Hypotheken auf sein Haus auf und investierte seine komplette Altersversorgung, um den Kauf zu stemmen. Mit zwei, damals noch kleinen Söhnen war das ein enormes Risiko. “Ich war 40 Jahre alt. Das war ein kritischer Teil des Karriereweges”, sagte er 2014 der Financial Times. “Wenn das schief geht, verliert man sein ganzes Geld und hat seine Karriere endgültig ruiniert.”
Das war die Geburt seiner Firma Inspec, die 1998 zu Ineos wurde. Die Gesellschaft wuchs durch einige kluge Übernahmen schnell, typischerweise durch Zukäufe von kleineren unterbewerteten Spezialchemiefirmen, der er größeren Konzerne wie BASF und BPabkaufte. Die Firmen wurden durch harte und schnelle Kosteneinsparungen saniert und trugen dazu bei, neue Deals zu finanzieren und so das Unternehmen profitabel zu machen.
Das ging nicht ohne erhebliche Turbulenzen ab. Die Weltfinanzkrise 2008 traf das Unternehmen hart, weil seine Schulden zu einer gewaltigen Bürde wurden. Ein Streit mit der Regierung im Vereinigten Königreich über eine Stundung von Umsatzsteuerzahlungen veranlasste Ratcliffe 2010, den Unternehmenssitz von Ineos in die Schweiz zu verlegen – sechs Jahre darauf macht er das wieder rückgängig.
Knallharter Geschäftsmann
Und dann war da noch 2013 und der Moment, als Ratcliffe endgültig ins Scheinwerferlicht der britischen Öffentlichkeit geriet. Es ging dabei um einen Streit zwischen Ineos und einer Gewerkschaft über Löhne und Renten in der schottischen Ölraffinerie Grangemouth.
Ratcliffe bestand darauf, Einschnitte seien nötig um die Raffinerie erhalten zu können. Zehn Jahre später arbeitet Grangemouth immer noch, aber seine Reputation hat durch den Streit gewaltig gelitten, weil die Vorgehensweise Ratcliffs als sehr hart und herzlos empfunden wurde.
Der Umgang mit den Arbeitern der Raffinerie Grangemouth in Schottland kostete Ineos und Ratcliffe viele Sympathien
Eine andere Kontroverse entzündete sich an Ratcliffs Unterstützung des Brexits. Sein Brexit-Engagement hinderte den Unternehmer nämlich nicht, ausgerechnet Frankreich als Standort für die Produktion seines ersten Autos auszuwählen. Weil er genervt war von der neuen Version des legendären Land Rover Defender, wollte Ratcliffe einen Wagen bauen, der der alten Version ähnlicher sein sollte. Der Grenadier hatte eigentlich in Wales gebaut werden sollen. Doch im Dezember 2020 teilte er mit, das Auto würde im französischen Hambach gebaut. Dort, nah der Grenze zu Deutschland, hatte er eine Produktionsstätte von Mercedes gekauft, in der zuvor der Smart gefertigt worden war.
Harte Kindheit – dicke Haut
Seine für einen Mann aus Manchester sprichwörtlich “dicke Haut”, so der Milliardär, helfe ihm, seine Karriere trotz aller Kritik weiter zu verfolgen und er sei ja auch nicht in eine privilegierte Klasse hineingeboren. Er war in einer Sozialwohnung in Manchester aufgewachsen – in Sichtweite des legendären Stadions Old Trafford. Als er zehn war, zog seine Familie nach Yorkshire. Sein Vater war Tischler und machte sich mit einer Möbelfabrik selbständig.
In einem Portrait des Senders BBC gab sein Bruder Bob 2013 Einzelheiten zur “harten Liebe” ihres Vaters zu seinen Söhnen preis, während sie mit ihm in der Firma gearbeitet hatten. Als etwa ein Arbeiter Ratcliffe Senior vorschlug, Bob doch im Auto im Auto mit nach Hause zu nehmen, antwortete dieser: “Der ist ja nicht aus Zucker, er wird schon nicht schmelzen.”
Sport und Abenteuer
In den vergangenen Jahren sind Ineos und Ratcliffe mehr durch ihr Engagement im Sport als durch ihre geschäftlichen Tätigkeiten wahrgenommen worden: Ineos kaufte des französischen Erstligaklub OGC Nizza und das Schweizer Team Lausanne-Sport.
Außerdem unterhält Ineos das Tour-de-France-Gewinner-Team Ineos Grenadiers, das bis dahin als Team Sky unterwegs gewesen war. Darüber hinaus wird auch das britische Segelteam für den America’s Cup und das Formel-1-Engagement von Mercedes finanziert.
Ratcliffe selbst bezeichnet sich als Sportfan, diese Liebe motiviere seine geschäftlichen Bemühungen. Er ist begeisterter Radfahrer, Marathonläufer und Bergsteiger und einer der wenigen Menschen, die bereits sowohl am Nord- als auch am Südpol gewesen sind.
Jim Ratcliffe ist inzwischen 70 Jahre alt – und immer noch auf der Suche nach neuen Abenteuern
Jeden Tag ein Abenteuer
Kritiker werfen dem Geschäftsmann allerdings vor, er betreibe “Sportswashing”, nutze also den Sport, um von den ernsten Umweltproblemen seines Konzerns und seinem jahrelangen Eintreten für Fracking abzulenken.
Ineos ist ein großer Verbraucher fossiler Energien und über Jahre hinweg in verschiedene Umweltschutzkontoversen verstrickt gewesen – von einem Öl-Leck in Norwegen und einem Gasunfall in Frankreich bis zu verletzten, in Krankenhäusern behandelten Arbeitern in Belgien.
Wo auch immer die Motive liegen, inzwischen ist Ineos ein Big-Player im internationalen Sport. Obwohl er schon 70 ist, scheint Ratcliffe zu glauben, er stehe gerade erst am Anfang. Diskussionen über einen Rückzug bügelt er ab.
Ineos-Direktor Tom Crotty gab 2020 im Interview mit der Financial Times einmal einen Hinweis darauf, was Jim Ratcliffe antreibt: “Jim folgt der Philosophie, dass man jeden einzelnen Tag seines Leben erinnerungswürdig und unvergesslich gestalten muss. Darum unternimmt all diese Abenteuer und das gilt auch für sein Geschäft.”
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert