Der Kopf des Avatars schwebt über der Maschine. Die gespenstischen Hände zeigen auf das Messer, das ausgewechselt und auf die Schraube, die dafür herausgedreht werden muss. Im Kopfhörer der Datenbrille erklärt die Stimme Schritt für Schritt, was zu tun ist und beantwortet Fragen. Wir befinden uns in der AR-Welt, das steht für Augmented Reality, eine Erweiterung der Realität durch eingeblendete digitale Informationen oder auch: Industrie 4.0 plus.
Die Maschine, ein Granulator für das Kunststoff-Recycling, ist sehr real und steht in der Fabrikhalle des mittelständischen Maschinenbauers ZWi Technologies im Industriepark Troisdorf bei Bonn. Der Techniker, der dem Maschinenbediener als Avatar die Anweisungen gibt, sitzt in einem Büro, trägt auch eine Datenbrille und hat den digitalen Zwilling des Granulators vor sich im Raum. Mit den Joysticks in den Händen markiert er Bauteile auf der dreidimensionalen Abbildung. Gleichzeitig sieht er auf einem Video, was die Kamera des Maschinenbedieners aufnimmt: die Maschine sozusagen durch die fremden Augen.
Ein Mitarbeiter beim Unternehmen ZWi Technologies steuert eine Maschine per Gestensteuerung und Datenbrille
Seit Anfang 2021 beteiligt sich ZWi an dem Forschungsprojekt 5G-IndustrieStadtpark Troisdorf zusammen mit dem Folien-Produzenten Kuraray, dem Fraunhofer Institut für angewandte Informationstechnik (FIT) und weiteren Forschungseinrichtungen. Mit Förderung des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr (BMVD) werden im Industriepark ein 5G-Campusnetz aufgebaut und Anwendungen entwickelt, für die eine Datenübertragung in Echtzeit wichtig ist. Eine davon ist ein sogenannter 5G-Werkzeugkoffer für den Mittelstand: ein Servicepaket aus Hard- und Software für komplexe Fernwartungsaufgaben.
Die wollen nicht nur spielen
Waren virtuelle Welten früher ausschließlich den Gamern vorbehalten, nutzen Unternehmen nun sie zunehmend für Marketing, Personalrekrutierung, Meetings und Schulungen. “Das Metaverse ist das nächste große Ding im Internet”, sagt denn auch Leif Oppermann, der beim FIT in St. Augustin bei Bonn über technische Lösungen für die Mixed and Augmented Reality, kurz MR/AR forscht. In der Verschmelzung virtueller und realer Welten sieht er ein großes Potenzial für Assistenzsysteme in der Produktion, Wartung und Logistik. Das Troisdorfer Forschungsprojekt sei noch kein Metaverse in Reinform, vereine immerhin mehrere Elemente davon: “Damit können zwei räumlich getrennte Personen gleichzeitig am digitalen Zwilling und an der realen Maschine arbeiten und sich mit Hilfe von Avataren sowie Audio, Video und Gesten verständigen.”
Digitale Zwillinge, Avatare, Datenbrillen und andere tragbare Geräte sind die Komponenten von Metaverse, dem virtuellen Paralleluniversum, in dem reale Dinge und Personen ihre Kopien haben, interagieren und dabei Raum und Zeit überwinden können. Es gibt mehrere Plattformen wie Decentraland, Omniverse, Roblox und Sandbox, die jedoch kein universelles, allen zugängliches Metaversum bilden. Tech-Konzerne wie Die Facebook-Mutter Meta investieren Milliarden in die Technologie, aber auch viele kleinere Firmen basteln an eigenen virtuellen Umgebungen.
Steuerung der Maschine im virtuellen Raum mittels Datenbrille und Laptop
Diesmal kein Schnickschnack
Ältere werden sich noch an Second Life erinnern: Jede Firma, die etwas auf sich hielt, sicherte sich eine Parzelle in der virtuellen Parallelwelt und lud dort zu Treffen und Konferenzen ein, zu denen fantasievoll gestylte Avatare strömten. Der Boom dauerte nicht lange. Datenbrillen waren Anfang der 2000er Jahre noch unbekannt, das Internet war weder schnell noch drahtlos und bodenständige Industrieunternehmen sahen keinen Mehrwert im virtuellen Schnickschnack. Dann kam die Pandemie und katapultierte Remote-Dienste nach vorne. Azubis mussten auf Distanz lernen, Servicetechniker aus der Ferne Anlagen in Betrieb nehmen und Probleme beheben.
Vom Büro in die Werkhalle: Ein Mitarbeiter steuert eine Maschine via VR-Brille und Laptop
“Während der Corona-Zeit halfen wir uns mit Videos aus”, erzählt Lukas Odenthal, Projektleiter Entwicklung und Konstruktion bei ZWi. Der Troisdorfer Mittelständler baut Sondermaschinen vorwiegend für Kunststoffproduzenten: Von diesen ganz speziellen Anlagen gibt es nur wenige auf der Welt. Folglich gibt es keine Standard-Lösungen für etwaige technische Probleme. Wenn ein Kunde eines hatte, rief er bei ZWi an, schilderte die Situation und drehte ein Video davon. “Wir schickten unsere Anweisungen per Video zurück: Das war wenig effizient.”
Kommunizierende Werkzeuge
Mit dem neuen Werkzeugkoffer via 5G soll die Kommunikation in Echtzeit und ohne Informationsverluste ablaufen. Mehr noch: “Wir sind dabei, Werkzeuge da reinzupacken, die tatsächlich mit der Datenbrille kommunizieren können”, sagt Odenthal. So könnte der intelligente Schraubenschlüssel automatisch die Schraube genau mit dem benötigten Drehmoment anziehen. Dafür ist ein digitaler Zwilling der Maschine, deren 1:1- Abbildung im Internet, nötig. Diesen zu erstellen, bedeute keinen zusätzlichen Aufwand, meint der Projektleiter: “Die Daten liegen vor, weil wir die Maschinen seit langem computergestützt konstruieren.” Selbst der Bestand ließe sich mit Zwillingen nachrüsten. “Nur bei alten Maschinen, die man noch auf Papier mit Tusche gezeichnet hat, geht das nicht.” Und die Avatare? “Uns ist aufgefallen, dass sie die Sache vereinfachen. Man sieht den Blickwinkel des Avatars, man sieht, worauf seine Hände zeigen statt die Stelle mit Pfeilen zu markieren.”
Austausch über die neue Technik: Auf dem Bildschirm der digitale Zwilling des Granulators
Am Standort Troisdorf produziert der japanische Spezialchemie-Konzern Kuraray Folien für Verbundglas. Kuraray setzt die Granulatoren von ZWi ein, um die Folienreste zu schreddern und als Rohstoff direkt in der Produktion wiederzuverwerten. Mit Hilfe der neuen Technologie erhalten die Beschäftigten ein exaktes Bild der Anlagen, angereichert durch Betriebsanleitungen und Konstruktionspläne. Damit lassen sich Störungen beheben und neue Arbeitskräfte für die tägliche Reinigung schnell anlernen. “Dann wäre sogar Homeoffice für unsere Techniker möglich”, glaubt Standortleiter Holger Stenzel. Das Institut Leistung Arbeit Gesundheit (ILAG) prüft als Kooperationspartner, wie gut sich die Mitarbeitenden in dem Mix aus realer und virtueller Welt fühlen.
Echtzeit braucht 5G
Laut einer aktuellen Umfrage des Digitalverbands Bitkom steht fast ein Drittel der deutschen Firmen dem Thema Metaverse kritisch gegenüber, ein Viertel ist jedoch aufgeschlossen. Mit Hilfe des Werkzeugkoffers soll ein Mittelständler, der bisher gerade einmal eine eigene Webseite hat, den Sprung direkt ins Metaverse schaffen, so die Idee. Wenn Servicetechniker nicht um die ganze Welt reisen müssen, spart es Kosten, Zeit sowie CO2 und schafft Abhilfe in Sachen Fachkräftemangel. “Für manches Problem müsste ich eigentlich drei Leute zum Kunden schicken: einen Elektriker, einen Maschinenbauer und einen Informatiker”, meint Odenthal. “Virtuell kann ich sie einfach zuschalten.”
Damit die mobilen Geräte gestochen scharfe Bilder liefern, die Videos nicht ruckeln und die Infos ohne Verzögerung ankommen, ist Mobilfunk der neuesten Generation 5G notwendig. Ein 5G-Campusnetz bietet lokal begrenzt superschnelle Datenübertragung in der erforderlichen Bandbreite. Das FIT hat bereits ein solches Testnetz an seinem Standort in St. Augustin, in dem es die Geräte erprobt. Im Industriepark nahe Bonn baut die Tochter der Stadtwerke Troisdorf, TroiLine, ein 5G-Campusnetz aus Funkbasisstationen und Glasfaseranbindung. Wegen Lieferschwierigkeiten ziehen sich die Arbeiten jedoch länger als geplant hin. Mitte 2024, schätzt Oppermann, sollte es soweit sein.