Was haben diese grundverschiedenen Firmen gemeinsam? Toyota aus Japan, Nokian Tyres aus Finnland, Continental aus Deutschland, TotalEnergies und Leroy Merlin aus Frankreich, Ikea aus Schweden, Smurfit Kappа aus Irland, Swarovski aus Österreich? Sie alle haben sich innerhalb nur eines Monats, im März 2023, komplett oder teilweise aus Russland zurückgezogen oder den baldigen Verkauf ihrer Aktivitäten auf dem russischen Markt verkündet.
Diese Liste sollte zudem erstens durch Volkswagen ergänzt werden. Der größte Autobauer Europas war Mitte März schon nahe dran, sein Werk in Kaluga zu veräußern, aber seine Vermögenswerte wurden von einem russischen Gericht eingefroren. Und zweitens durch Henkel: Bereits im Februar teilte der deutsche Haushaltschemie-Hersteller mit, er strebe noch im ersten Quartal 2023 den Verkauf seiner immerhin elf Werke in Russland an.
Begegnung im Kreml: Russlands Präsident Putin und der damalige VW-Chef Herbert Diess treffen sich am 12. April 2019
Mehrere Verkaufswellen seit Russlands Angriff auf die Ukraine
Das sieht nach einer neuen starken Rückzugswelle westlicher Firmen aus. Die erste und größte gab es Ende Februar, Anfang März 2022, als unmittelbar nach dem massiven Überfall Russlands auf die Ukraine zahlreiche ausländische Unternehmen ihr Geschäft auf dem russischen Markt erst einmal auf Eis legten. Sie schlossen ihre Läden, stoppten die Produktion, ihre Investitionen und den Export nach Russland – und begannen abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln.
Doch etliche Firmen handelten schon damals nach dem Prinzip “nichts wie raus und die Verluste abschreiben”. Als Beispiel seien der britische Ölkonzern BP, die US-amerikanische Fast-Food-Kette McDonald’s, der deutsche Nutzfahrzeugbauer Daimler Truck und die Baumarktkette Obi genannt. Oder der französische Autobauer Renault: Im Mai hat er seinen Mehrheitsanteil an dem Lada-Hersteller Avtovaz an das russische Automotive-Forschungsinstitut NAMI und das komplette Werk in Moskau an die Stadtregierung einfach abgegeben.
In den folgenden Monaten gab es dann immer wieder Rückzugswellen. So waren im Oktober die prominentesten Beispiele, um bei der Autoindustrie zu bleiben, der deutsche Konzern Mercedes-Benz, die US-amerikanische Ford Corporation sowie der japanische Hersteller Nissan, wobei letzterer sein Werk und das Forschungszentrum in Sankt Petersburg ebenfalls dem NAMI-Institut kostenlos übergab.
Das Renault-Autowerk in Moskau: Hier wurden verschiedene Modelle des Dacia produziert
Als “Käufer” bzw. “Empfänger” der westlichen Aktiva fungierte oft das örtliche Management, das zwar die entsprechenden Produktionsstätten gut kennt, aber meistens nicht über das Kapital und Knowhow verfügt, um den Verkäufer angemessen auszuzahlen und um die erworbenen Werke technologisch weiterzuentwickeln.
Nun also rollt eine neue Rückzugswelle und wieder trifft sie besonders hart die russische Automobilindustrie, vor allem ihre vor dem Ukraine-Krieg erfolgreichsten Cluster: in Kaluga südwestlich von Moskau und im Großraum Sankt Petersburg.
Warum genehmigt Moskau jetzt mehr Unternehmensverkäufe?
Seit dem 5. März gehört das Motoröl-Werk in Kaluga nicht mehr zum französischen TotalEnergies-Konzern. Am 8. März berichtete Continental von “fortgeschrittenen Gesprächen” zum Verkauf seines Reifenwerks in Kaluga, es stünden noch “regulatorische Genehmigungen” aus. Am 14. März wurden solche Genehmigungen dem finnischen Reifenhersteller Nokian Tyres erteilt: Seine Fabrik bei Sankt Petersburg hat der russische Ölkonzern Tatneft erworben. Am 16. März teilte der Kreml mit, man arbeite an der Übergabe des Toyota-Werks in Sankt Petersburg an das NAMI-Institut.
April 2019, vor gerade mal vier Jahren: Russlands Präsident Wladimir Putin zu Besuch im Werk von Mercedes-Benz in der Region Moskau. Rechts der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier
Wie es scheint, finden einige westliche Investoren die Möglichkeit (oder bekommen die Erlaubnis), wenigstens etwas Geld für ihre Vermögensgegenstände in Russland zu erhalten. Andere dagegen müssen ihre Aktiva faktisch abgeben, um den russischen Markt juristisch sauber verlassen zu können und gegen mögliche Klagen abgesichert zu sein. In einigen Fällen geht es dabei wohl auch um die Option einer möglichen Rückkehr und vielleicht einer zumindest teilweisen Rückgabe des Eigentums.
Daher stellt sich die Frage, von welcher Logik sich Moskau leiten lässt (manche Entscheidungen soll Wladimir Putin persönlich treffen), wenn es Firmen aus “unfreundlichen Staaten” des Westens den Verkauf ihrer russischen Betriebe erlaubt. Daran knüpft eine weitere Frage an: Warum steigt gerade jetzt, ein Jahr nach Beginn des großen Angriffskriegs Russlands, die Zahl solcher Genehmigungen rapide an? Ist das reiner Zufall – oder ein Trend?
Die Raffinerie des französischen Energiekonzerns TotalEnergies in Kaluga
Für Zufall spricht die Tatsache, dass diese Deals seit langem vorbereitet wurden. So hatte Toyota bereits im September 2022 das endgültige Aus für das Werk in Petersburg verkündet, TotalEnergies stoppte die Produktion in Kaluga schon Ende April 2022. Dass der Verkauf der russischen Aktivitäten sich über ein ganzes Jahr hinziehen kann, beweist das Beispiel Ikea. Der schwedische Konzern hatte seine Möbel- und Einrichtungshäuser kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine geschlossen, aber die letzte seiner drei Fabriken in Russland erst jetzt, am 24. März, dem neuen Besitzer übergeben können.
Manche westliche Firma hoffte auf einen günstigen Verkauf
Offensichtlich wollte so manche westliche Firma doch noch wenigstens etwas aus ihren russischen Aktiva herausschlagen, statt sie vor dem Hintergrund des Schreckens der russischen Aggression einfach komplett abzuschreiben. In diese Liste reiht sich – neben den bereits erwähnten Ikea, Nokian Tyres oder Henkel – auch der Verpackungsspezialist Smurfit Kappа ein. Das irische Unternehmen erklärte den Rückzug aus Russland bereits im April 2022, hatte aber den Verkauf von drei Fabriken im Großraum Sankt Petersburg und einer in Moskau erst am 23. März 2023 unter Dach und Fach.
Gut besucht: Filiale des französischen Baumarkt-Konzerns Leroy Merlin in Moskau
Einen Sonderfall stellt die französische Baumarkt-Kette Leroy Merlin dar. Sie hatte sich vor einem Jahr trotz des Krieges definitiv für einen Verbleib in Russland ausgesprochen, verkündete aber nun am 24.März, dass die 107 Märkte in 62 russischen Städten doch verkauft werden. Anscheinend wurde das Geschäft angesichts fallender Kaufkraft der russischen Bevölkerung und wachsender logistischer Schwierigkeiten beim Import von Waren ins stark sanktionierte Russland zu unattraktiv. Der neue Chef des Edelstein-Konzerns Swarovski hat den endgültigen Rückzug dagegen Anfang März wohl eher aus Imagegründen angeordnet, denn der österreichische Schmuckhersteller hatte seine Aktivitäten auf dem russischen Markt bereits kurz nach Kriegsausbruch auf Eis gelegt.
Dass der Verkauf von Vermögenswerten in Russland sich so kompliziert und langwierig gestaltet, dürfte bestimmt auch am verständlichen Bestreben der Käufer liegen, den Preis möglichst tief zu drücken. Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, dass die russische Regierung ihre Genehmigungen absichtlich zurückhielt in der Hoffnung, so mancher westliche Investor würde sich vielleicht doch noch fürs Bleiben entscheiden.
Aber spätestens Anfang 2023, als sich der erste Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine näherte und nach wie vor kein Ende des Krieges in Sicht war, dürften diese Hoffnungen endgültig verflogen sein. Es liegt die Vermutung nahe, dass Moskau deshalb Genehmigungen schneller erteilte, um die stillstehenden Werke wenigstens halbwegs wieder in Betreib zu nehmen oder die laufende Produktion endlich mit neuen Eigentümern zu gewährleisten. Das könnte ein Grund für die aktuelle Abwanderungswelle sein.
Volkswagen kassiert nach einem Jahr Zögern eine Millionenklage
Die seltsame Geschichte mit Volkswagen passt jedoch ganz und gar nicht in dieses Erklärungsmuster. Das große VW-Werk in Kaluga steht schon seit Anfang März 2022 still, aber der deutsche Branchenriese wollte dem Beispiel von Renault und Nissan (bei Toyota läuft es wohl auf dasselbe hinaus) offenkundig nicht folgen, obwohl er eine kostenlose Übergabe des Betriebs an den russischen Staat finanziell eindeutig verkraftet hätte.
Stattdessen hat der Konzern ein ganzes Jahr gewartet. Worauf? Auf ein Ende des Krieges? Am 1. März 2023 bestätigte er Verhandlungen über einen Verkauf und am 15. März betonte er die Absicht, ihn “relativ zeitnah abzuschließen”. Aber zu dem Zeitpunkt hatte der ehemalige Partner GAZ, mit dem man doch im vorigen Sommer im Einvernehmen auseinandergegangen war, eine Schadensersatzklage über rund 190 Millionen Euro eingereicht und bereits am 17. März wurden die VW-Vermögenswerte von einem russischen Gericht eingefroren.
Es fällt äußerst schwer zu glauben, dass der Autobauer GAZ und sein Besitzer, der unter westlichen Sanktionen stehende kremlnahe Oligarch Oleg Deripaska, eine solch unerwartete und vielbeachtete Klage ohne Absprache mit der höchsten russischen Führung eingereicht hat.
Daher kann man davon ausgehen, dass Moskau der Verkauf des VW-Werks bewusst zumindest hinauszögern will. Mit welchem Ziel? Um dem ehemals so hofierten deutschen Investor zum Abschied möglichst viele Millionen abzupressen? Oder um ein innenpolitisch sehr unangenehmes Geständnis hinauszuzögern? Es ist nämlich selbst nach dem Moskau-Besuch von Chinas Staatschef Xi Jinping nach wie vor weit und breit kein herbeigesehnter chinesischer Autobauer in Sicht, der anstelle von Volkswagen treten könnte – und deshalb wird es mit dem Automobilstandort Kaluga rund 200 Kilometer südlich der Hauptstadt nun erst recht bergab gehen.