(SeaPRwire) – Deutschland befindet sich in einer politischen Krise. Die Alternative für Deutschland (AfD), eine rechtspopulistische Partei, begann im letzten Frühjahr in Umfragen zu steigen. Nachdem sie 2017 erstmals seit den 1950er Jahren als rechtspopulistische Partei in den Bundestag eingezogen war – schien die Partei zunächst bei etwa 10 Prozent der Wählerschaft zu stagnieren. Doch das hat sich geändert: Aktuell liegt die AfD bei etwa 22 Prozent und ist damit die zweitstärkste Kraft im Land. Bei jüngsten Regionalwahlen erzielte sie ebenfalls gute Ergebnisse. Zudem fürchten die Deutschen, wie die Partei bei der Bundestagswahl 2025 abschneiden wird. Nachdem die Partei kürzlich erklärte, “nicht assimilierte” deutsche Staatsbürger abschieben zu wollen, fanden in Städten des Landes große Pro-Demokratie-Demonstrationen statt.
Seit der erstmaligen Bedeutungsgewinnung der AfD versuchen Experten, den Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei (die manche mit Neonazis vergleichen) in dem Land zu erklären, in dem einst Adolf Hitler herrschte. In der Nachkriegszeit arbeitete Deutschland hart daran, derartige politische Formationen auszugrenzen und den Bürgern beizubringen, dass solche Gruppen inakzeptabel seien. Viele zeigten sich daher bestürzt über die Erfolge der Partei und suchten nach unmittelbaren Ursachen.
Um jedoch zu verstehen, warum eine der größten demokratischen Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts sich nun zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrhunderts in Richtung einer demokratiefeindlichen Partei bewegt, muss man die längerfristige Geschichte der Nachkriegsdemokratie in Deutschland betrachten. Indem die Nachkriegsdemokratie politische Wahlmöglichkeiten zugunsten eines stabilen Konsenses einschränkte, machte sie sich anfällig für Parteien wie die AfD, die in Krisenzeiten echte Alternativen zum engen Status Quo anbieten zu können behaupten.
Die politischen Normen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verankerten, bereiteten die jüngsten Entwicklungen in der deutschen Politik vor. Die Weimarer Republik, Deutschlands erster Versuch einer Demokratie, war mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zusammengebrochen. Von diesem Scheitern gezeichnet und in Sorge vor dem kommunistischen Einfluss gestalteten deutsche Politiker und die westlichen Alliierten eine neue Ordnung aus den Trümmern, die – so die Hoffnung – die chaotischen Auswüchse der Weimarer Zeit vermeiden sollte.
Zwischen 1945 und 1949, als die vier Alliierten Deutschland besetzten, begrenzten die Alliierten Führer den politischen Diskurs künstlich. Sie bevorzugten Parteien der Mitte, während sie extreme Gruppierungen entweder verboten oder unter Druck setzten. Die Sozialdemokratische Partei, Deutschlands älteste politische Kraft, rückte in Richtung Mitte. 1959 strich sie offiziell marxistische Ideologie aus ihrem Parteiprogramm und orientierte sich am Kalten Kriegsliberalismus. Wirtschaftstechnokraten gestalteten und schützten die berühmte Soziale Marktwirtschaft, ein regulierter kapitalistisches System, das einen Basisstandard sichern sollte. Unterschiede zwischen Parteien und Politikern gab es durchaus, doch die turbulenten Zeiten der 1920er Jahre waren vorbei. Die westdeutschen Führer und ihre Alliierten schätzten die demokratische Form mehr als die Funktion, stabilen Konsens mehr als politische Wahlmöglichkeiten.
Die westdeutsche Politik hielt diesen Kurs über Jahrzehnte. Zwischen 1961 und 1983 errangen nur drei Parteien Sitze im Bundestag. Und die Wähler neigten zur Kontinuität zwischen Regierungen. Bis auf eine Ausnahme gewann die christdemokratische CDU bei jeder Wahl zwischen 1949 und 1990 die meisten Stimmen. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer errang 1957 mit dem Slogan “Keine Experimente” den größten Wahlerfolg einer Partei in der deutschen Geschichte. Parteien, die als außerhalb des Mainstreams angesehen wurden, wie etwa die Kommunistische Partei, wurden von der Regierung verboten.
Als der Konservative Helmut Kohl 1982 zum Bundeskanzler wurde – nach einem dramatischen Machtkampf mit dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt -, leitete er nicht die Art radikaler neoliberaler Sparreformen ein, wie sie seine Zeitgenossen Margaret Thatcher und Ronald Reagan durchführten. Der westdeutsche Konsens beschränkte also den politischen Handlungsspielraum, förderte aber Stabilität und Kontinuität in der Politik.
Doch die Unterdrückung notwendiger Diskussionen war die Kehrseite dieser Medaille. Jahrzehntelang sprachen Zeitgenossen über das erdrückende Schweigen zum Holocaust und anderen Nazi-Verbrechen. Der Soziologe Ralf Dahrendorf, ein Überlebender der Konzentrationslager, beschrieb die westdeutsche Gesellschaft als leidend unter einem “Mordsyndrom” und einem “Virus der Unmenschlichkeit”. Marginalisierte Gruppen sahen sich weiter Verfolgungen ausgesetzt: Über 50.000 homosexuelle Männer wurden in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik nach einem Nazi-Gesetz verurteilt. Das Bestreben, einen Nachkriegskonsens einschließlich Millionen ehemaliger Nazis herzustellen, ließ eine systematische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit und die Fortdauer systematischer Benachteiligungen zu. Tatsächlich strich der Bundestag ein Nazi-Gesetz erst letztes Jahr aus seinem Regelwerk.
Geschützt durch den amerikanischen Sicherheitsschirm, überzeugt davon, die Geister der faschistischen Vergangenheit überwunden zu haben, und großzügig beim Ausbau des modernen Sozialstaats – hielt der westdeutsche Nachkriegskonsens über Jahrzehnte. Der Deal, den Politiker – und die Nachkriegsbesatzungsmächte – eingegangen waren, lautete: ein komfortables Leben im Gegenzug für einen geräumten politischen Raum.
Doch das Ende des Kalten Krieges störte diesen Deal.
Nachdem am 9. November 1989 Ostberliner auf die Mauer kletterten, schloss Kohls Regierung die ehemalige DDR rasch in die Bundesrepublik ein. Doch die Euphorie des Mauerfalls verflog schnell, als Ostdeutsche massenhaft ihre Jobs verloren und Westdeutsche über die Kosten murrten, die sie für den Wiederaufbau der neuen Länder aufbringen sollten. Unter wirtschaftlichem Druck führte die rot-grüne Regierung von Gerhard Schröder zu Beginn der 2000er Jahre ein Paket neoliberaler Reformen durch und kürzte den deutschen Sozialstaat.
Auch wenn diese Veränderungen nicht ausschließlich auf Deutschland zutrafen – neoliberale Gesetzgebung in großen Industrieländern ab den 1980er Jahren hat oft den politischen Raum geleert, indem sie politische Entscheidungsfindung durch Marktlogik durchdrang – so hatten sie doch ähnliche destabilisierende Folgen. Schon lange weisen Denker weltweit auf die destabilisierenden Auswirkungen solcher Politik hin. Dennoch schufen sie Raum für Parteien wie die AfD.
Aber deutsche Kommentatoren sahen oft anderswo nach Erklärungen für den Aufstieg der Partei. Manche verwiesen auf die Flüchtlingskrise ab 2015. Kanzlerin Angela Merkels Regierung nahm etwa 800.000 Asylsuchende auf, was einen fremdenfeindlichen, populistischen Backlash auslöste. Andere deuteten auf die besondere Stärke der Partei in den früheren Ost-Bundesländern hin und sahen darin einen Ausdruck von Enttäuschung über die Wiedervereinigung. Zuletzt betonten Journalisten den ungewöhnlichen Erfolg der Partei auf TikTok und bei jüngeren deutschen Wählern.
Wieder andere verwiesen auf Merkels Politikstil während ihrer 16 Jahre als Kanzlerin. Als zweitlängstdienende Kanzlerin im Nachkriegsdeutschland (Helmut Kohl übertrifft sie um 10 Tage) galt Merkel lange als Inbegriff der Stabilität, als “Beamtin an der Regierungsspitze, die über den Parteien schwebte”. Mäßigung und Konsens waren ihre Losungen; wie ihre westdeutschen Vorgänger ging sie selten überstürzt vor und suchte üblicherweise die Zustimmung der anderen etablierten Parteien.
Doch genau das, was Merkel zur Quelle der Stabilität machte, bot der AfD nach dieser Lesart eine Chance: Indem sie ihre eigene CDU nach links rückte, schuf sie rechts von ihr ein Vakuum, und indem sie die großen Parteien weitgehend als austauschbar erscheinen ließ, verlieh sie dem Eindruck Stagnation und Langeweile Vorschub. Mit den meisten großen Parteien im Gleichschritt der Pax Merkelana suchenden Protestwähler vermehrt nach der “einzigen wahren Alternative”.
Doch Merkels konsensorientierte Politik hatte ihre Wurzeln nicht in ihrer Person.
Was Deutschland von dem Rest Westeuropas unterscheidet, ist die außergewöhnliche Länge, mit der sich der politische Raum eingeengt hat.
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